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Wieso es glücklich macht, nur 51 Dinge zu besitzen (oder ein paar mehr)

mut zum minimalismus

Wir leben heute in einem nie dagewesenen Wohlstand, der kaum einen Wunsch nach materiellen Dingen unerfüllt lässt. Wir sind Konsum gewohnt und knüpfen daran gerne die Hoffnung, uns Glück erkaufen zu können. Doch statt uns über unsere Errungenschaften zu freuen, stellen wir uns getreu dem Motto „Nach dem Kauf ist vor dem Kauf!“ wie ein nimmersatter Pac-Man immer wieder in die Schlange der Kaufhauskasse — für den Release unseres Wunschhandys, für das Erscheinen der neuesten Kleiderkollektion oder für den ergonomischsten Chefsessel aller Zeiten. Doch das erhoffte Lebensglück landet dabei eher selten in der Einkaufstüte (oder im Amazon-Warenkorb). Das kann man nämlich nicht kaufen, auch wenn uns die Werbeindustrie das glauben machen will. Vielmehr scheint — angesichts der Beobachtung, dass heute mehr denn je ein Leben voller Leben gesucht wird — das Gegenteil der Fall zu sein: Je mehr wir uns leisten, desto weniger werden wir davon erfüllt.

Minimalismus, Besitz, weniger, genug, Glück, Wert

Die umgekehrte Gleichung müsste für uns besser aussehen, oder? Je weniger wir uns leisten, desto mehr werden wir davon erfüllt. Klingt auch ohne Mathestudium verblüffend logisch. Warum probieren wir diese Rechnung also nicht mal praktisch aus? So richtig mit wochenlangem Shopping-Embargo inklusive Boykott des verkaufsoffenen Sonntags (bei dem ich mich eh immer frage, warum der Meute die übrigen sechs Tage nicht reichen, um sich mit allem Nötigen und Unnötigen einzudecken). So wie die Vertreter der Minimalism-Bewegung zum Beispiel, die sich das hehre Ziel gesetzt haben, mit weniger als 100 Besitztümern zu leben. Das ist extrem, ja, und doch markiert es eindrucksvoll einen Gegenpol zu einer Welt, die auf dem Shoppingkanal feststeckt. Versuch macht bekanntlich kluch! Wollen wir uns also zusammen reduzieren?


Wollen wir uns zusammen reduzieren?

Während ich das schreibe, habe ich mich gedanklich bereits von einem Haufen Krimskrams in meinem eigenen Haushalt verabschiedet. Aber um ehrlich zu sein, sind das Dinge, die ich eh seit Langem loswerden will – irgendwer bei eBay-Kleinanzeigen findet vielleicht Verwendung für meine alten Computerspiele und meine ausgefransten Klamotten (du vielleicht? Wie wär’s?). Aber das kann am Ende ja nicht alles sein, sich Sachen hin und her zu schieben und zum Schluss genauso viel Zeug wie vorher zu haben — nur halt secondhand. Das ist ohne Zweifel ein Fortschritt im Vergleich zum Shoppingwahn, aber unseren kollektiven Konsumrausch nüchtern wir damit nicht aus. Daher Hand aufs Herz: Können wir uns jemals glücklich konsumieren?


Die überzeugten (und in ihren Erlebnisberichten bewundernswert glücklich wirkenden) Minimalisten schwören darauf: Freiheit zum Leben erlangen wir nur im Verzicht, nur indem wir dem Konsum ein Schnippchen schlagen (was in direktem Gegensatz dazu steht, beim Konsum ein Schnäppchen zu machen).


Wir müssen ja nicht gleich mit dem US-Amerikaner Colin Wright konkurrieren, der mit lediglich 51 Besitztümern über die Runden kommt. Bei mir würde es vermutlich Jahre dauern, mein ganzes Hab und Gut allein auf eine dreistellige Zahl zu reduzieren (oh je, meine Bücher!). Aber ganz ohne Reduzierung kommen wir aus der Tretmühle des Konsums nicht raus.


wie besinnt man sich, wenn man seine sinne mit kauflust-glückshormonen betäubt?

Wenn ich irgendetwas von den Minimalisten für mich mitnehme, dann ist es die Frage danach, was ich brauche und was ich nicht brauche. Selbst wenn mich mein Besitzlimbo nicht auf unter 100 Dinge bringt (was ehrlich gesagt auch nicht mein Ziel ist), kann ich heute damit anfangen, meinen Blick für meinen Bedarf zu schärfen. Meine Wahrnehmung zu verändern. Bewusster zu konsumieren. Den Wert der Dinge zu entdecken. Denn ich vermute, dass der Clou des Glücklichseins ganz einfach darin liegt, zu schätzen, was man hat.


Mir gefällt die Vorstellung, nicht mehr von Zeug umgeben zu sein, das immer mehr wird, sondern von Habseligkeiten, deren Wert für mein Leben ich kenne. (Ist es nicht vielsagend, dass das Wort „Habseligkeit“ zum schönsten deutschen Wort aller Zeiten gekürt wurde?) Ich will dankbar sein für das, was ich mir leisten kann, und mich wie ein Honigkuchenpferd daran freuen. Ich will an die Binsenwahrheit glauben, dass weniger mehr ist. Ich will herausfinden, ob Glück da anfängt, wo Genügsamkeit Platz findet. Keine Ahnung, wo mich das hinführt. Versuch macht kluch! Wollen wir uns zusammen reduzieren?


Serge Enns ist Zukunftscoach, Mitbegründer von sh|ft und versucht trotz mitunter wechselhaftem Erfolg das zu reduzieren, was er zum Leben braucht. Diesen Artikel hat er ursprünglich für das shift Magazin geschrieben. Seither hat er seinen Besitz minimalisiert und gemerkt: das tut richtig gut – und ist doch ein langer Weg.


Cover foto by Benedicto de Jesus on Unsplash.

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